Do. Apr 25th, 2024

Aberglauben hatte stets seinen festen Platz in der menschlichen Gesellschaft. Tief verwurzelt scheint die Angst vor schwarzen Katzen, die von links unseren Weg überqueren, der Zahl 13 sowie Freitag dem Dreizehnten zu sein. Ebenso soll es Unglück bringen, unter einer Leiter hindurchzugehen oder einen Spiegel zu zerbrechen. Daher ist es also kein Zufall, dass dieses Buch genau 13 unheimliche Geschichten, eine schwarze Katze und einen Spiegel enthält. Wirken Flüche wirklich oder nur, wenn man an sie glaubt? Existieren Aliens und Zeittore ausschließlich in unserer Fantasie? Was ist möglich oder unmöglich, Wahrheit oder Fiction? Das müssen Sie, lieber Leser und liebe Leserin, selbst herausfinden. Doch Vorsicht! Verlieren Sie sich nicht zwischen den Zeilen dieses Buches.
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-1093338331
Auch als E-Book erhältlich!

Leseprobe aus dem Buch
Das Atelier
„Schau mal Steven, hier auf der linken Seite könnten wir die Nähmaschinen aufstellen“, John war ganz in seinem Element. Endlich hatte er das richtige Objekt zur Verwirklichung seines Traumes gefunden. Hier würden Mittelalterkostüme und Masken gefertigt werden, ein kleiner überschaubarer Betrieb, mehr ein Atelier. Steven, sein Jüngster, war erst elf Jahre alt, interessierte sich aber im Gegensatz zu seinen Brüdern schon jetzt brennend für alles, was mit jener Epoche zusammenhing. Zufrieden nickte der. „Ja, der Raum ist hell und luftig.“ „Es ist ja auch alles frisch renoviert.“ Herr Butler grinste zufrieden. „Dann sind wir uns also einig?“ „Absolut!“ Die beiden Männer schüttelten sich einvernehmlich die Hände. Schon in den nächsten Tagen sollte der Vertrag aufgesetzt und unterschrieben werden.
Steven sah sich neugierig um. „Herr Butler, gibt es hier eigentlich einen Keller?“ „Nicht, dass ich wüsste, mein Junge“, entgegnete der Makler überrascht. „Wohin führen dann diese Stufen?“ „Sie enden sozusagen im nichts. Besser gesagt vor einer soliden Mauer, wie du siehst.“ Während Steven die Mauer Stein für Stein inspizierte – vielleicht war ja einer davon locker – gingen die Erwachsenen bereits nach draußen. Enttäuscht blickte Steven gegen das Stück unverputzte Wand. Also doch kein Geheimgang, kein Abenteuer würde ihn auf der anderen Seite erwarten.
„Steven, wo bleibst du denn? Mama wartet mit dem Mittagessen!“ Mit einem Seufzer schlenderte er hinaus, wo sein Vater schon ungeduldig im Auto saß.
Der Vertrag war unterzeichnet und die Schlüsselübergabe erfolgt. „Daddy, schau doch, es ist einer zu viel! Er passt nirgends!“ Eifrig probierte der Junge einen Schlüssel nach dem anderen an den Schlössern aus. „Sowas soll schon mal vorkommen. Überlege lieber, wo du dein Zeichenbrett hinhaben möchtest.“ Mit leuchtenden Augen sah sein Sohn ihn an: „Ich bekomme einen eigenen Zeichentisch?“ „Natürlich! Zumindest in den Ferien und an den Wochenenden zähle ich auf deine Unterstützung. Wer soll denn sonst die Masken entwerfen?“ Der Tag war ausgefüllt mit Planungen, wie das Atelier gestaltet werden sollte. Vier Näherinnen waren bereits eingestellt. Steven hatte anfangs auf zwölf bestanden. „Du bist nicht Dornröschen, außerdem fehlt uns dazu der Platz. Lass uns erst einmal klein anfangen, dann sehen wir, wie das mit den Aufträgen läuft,“ hatte der Vater entgegnet. Steven freute sich wie ein Schneekönig, auch wenn er nicht Dornröschen sein durfte, denn bald begannen die Sommerferien. Ganze sechs Wochen konnte er dann im Atelier verbringen und Masken entwerfen oder Kostüme zeichnen. „Mein kleiner Künstler“, nannte ihn die Mutter oft liebevoll. Dieser Junge war ganz anders als seine Brüder, so ruhig und ausgeglichen.
Die Nähmaschinen ratterten, und Steven brütete in einer abgeteilten Ecke über einer besonders aufwendigen Maske, als ihn jemand am Ärmel zupfte. Verblüfft schaute er auf den kleinen schmächtigen Jungen in zerlumpten Kleidern. „Wo kommst du denn her?“, fragte er. Der kleine Kerl legte beschwörend seinen Finger auf die Lippen und bedeutete ihm zu schweigen. „Hör mal, du darfst hier nicht so einfach reinkommen. Wenn mein Vater dich erwischt …“ Ungeduldig zerrte das Kind an seiner Hand. Es mochte jünger sein als Steven, kleiner, schmaler – die schäbige Kleidung schlotterte um seinen Körper – aber die dunklen Augen in dem schmutzigen Gesicht wirkten erschreckend alt. „Hast du Hunger?“, entfuhr es Steven. Da öffnete sich die Eingangstür, der Vater kam mit den neuen Stoffmustern herein. Das Kind verschwand so schnell, wie es aufgetaucht war. Wo hatte es sich versteckt? Steven beschloss, bei Gelegenheit hinter den gelagerten Stoffballen nachzusehen. Zunächst wurde er aber bei der Auswahl der Stoffe gebraucht.
Später vergaß er den Vorfall jedoch, und am nächsten Tag geschah nichts Außergewöhnliches. Doch am Morgen darauf hockte der Junge unter dem Zeichentisch. „Hallo, da bist du ja wieder“, Steven kramte in seiner Hosentasche und zauberte einen leicht verformten Schokoriegel und eine angebrochene Kekspackung daraus hervor. Der Kleine schüttelte den Kopf. „Wie heißt du eigentlich?“ Eine schmutzige Hand griff nach dem Stift – und bevor Steven Einhalt gebieten konnte prangte in krakeliger Schrift der Name JOEY mitten auf der kunstvoll gezeichneten Maske. Das war zu viel! „Was …“ Stevens Hand traf ins Leere. Unendlich traurig sahen ihn zwei dunkle Augen an, dann war der Übeltäter verschwunden. Buchstäblich in Luft aufgelöst. „Das kann doch nicht sein, es sah fast so aus, als wäre dieser Joey mitten durch die Mauer gegangen, sinnierte der Künstler, der sein Werk so natürlich nicht vorzeigen konnte. Die Maske musste nochmals gezeichnet werden.
Wenn dort der Name nicht stehen würde, würde ich denken, ich drehe langsam ab! Ich werde der Sache auf den Grund gehen.
Gespannt wartete er auf die Rückkehr des seltsamen Kindes. Er musste allerdings über eine Woche Geduld aufbringen und versuchte, sich auf seine Zeichnungen zu konzentrieren. Dann war der Junge plötzlich wieder da. Ängstlich stand er im Raum und wich Schritt für Schritt Richtung Mauer zurück, als Steven sich ihm näherte. „Hab keine Angst! Ich tue dir nichts“, sagte er leise. „Du kannst nicht sprechen, oder?“ Der Fremde schüttelte den Kopf. „Was willst du mir zeigen?“ Der kleine Junge sah ihn unsicher an. „Du kannst mir vertrauen. Bisher habe ich niemandem von dir erzählt.“ Joey nickte und griff zaghaft nach Stevens Hand. Dann traten sie gemeinsam durch die Mauer, die sich wie von Zauberhand zerteilte.
Steven erstarrte. In dem düsteren Raum saßen zerlumpte Kinder an riesigen Spinnrädern. Trübe, zum Teil entzündete Augen in eingefallenen und ausgemergelten Gesichter, sahen ihn hoffnungsvoll an. „Wo bin ich hier? Für wen arbeitet ihr?“ Entsetzt blickte er sich um. Ein buckeliger Mann erschien – der Aufseher – und ließ eine Peitsche zischend durch die Luft fahren. Sofort beugte sich alles wieder über seine Arbeit.
John fand seinen Sohn schlafend am Zeichentisch. Als dieser erwachte fragte er ihn, ob die Arbeit vielleicht zu viel würde. Da erzählte ihm der Junge, was er gesehen hatte. „Das war nur ein Traum. Du hast fest geschlafen vorhin.“ „Nein, sieh doch. Hier ist ja noch die vermurkste Zeichnung mit seinem Namen. Joey heißt er. Wir müssen den Kindern helfen, Vater! Wir sollten die Wand aufbrechen. Dahinter geschehen furchtbare Dinge!“
„Was du erzählst gab es früher wirklich: Kinder, die bis zu zwölf Stunden täglich in Fabriken für einen Hungerlohn schufteten – bis ins 20. Jahrhundert hinein. Sogar heute noch in manchen Ländern der Dritten Welt – leider. Eine traurige Angelegenheit ist das. Aber hier ist so etwas längst gesetzlich verboten. Erst setzte man das Mindestalter von neun auf dreizehn Jahre hoch, dann …“
„Vater! Hinter dieser Wand arbeiten Kinder unter schrecklichen Bedingungen! Ich habe es selbst gesehen!“
„Steven, hinter der Wand ist nichts. Es war nur ein schlimmer Traum.“ Tröstend fuhr John seinem Sohn mit der Hand über den widerspenstigen Schopf. Das blonde Haar stand wie elektrisiert zu allen Seiten. Grübelnd sah der Junge auf die Mauer aus rotem Backstein. Kam Joey wirklich aus der Vergangenheit und wollte auf die Missstände seiner Zeit aufmerksam machen? Aber damals war Kinderarbeit nichts Ungewöhnliches. Wo lag also der Sinn des Ganzen?
„Joey, ich kann dir nicht helfen“, sagte er traurig und sah in die dunklen Augen. Der Junge fasste beharrlich nach seiner Hand. Seufzend ließ Steven sich abermals durch die Mauer ziehen. Vorbei an den Kindern mit den Spinnrädern, in einen anderen Raum mit großen Becken. An der Wand standen Regale mit Gläsern in unterschiedlichen Größen, in denen etwas schwamm. Joey zog eines hervor. Flummis schwammen in einer trüben Flüssigkeit. Nein, das waren keine Flummis sondern – Augäpfel! Steven stieß einen unterdrückten Schrei aus. Warnend legte Joey den Finger an die Lippen und sah sich ängstlich um. Unzählige beschriftete Gläser mit konservierten Föten, Hirnen, Nieren und anderen Organen waren hier aufbewahrt. Das zerlumpte Kind zog Steven weiter um eine Ecke. Hier stand ein Tisch, und darauf war ein Kind festgebunden – ein kleines Mädchen, das angsterfüllt an die Decke starrte. „Wir müssen es befreien“, wisperte Steven. Da wurden Schritte laut. Ein Mann in einem blutbespritzten Kittel betrat den Raum. Die Kinder duckten sich in die dunkelste Ecke und hielten den Atem an. Jetzt öffnete der Kerl einen Kasten und kramte ein seltsames Gerät aus dunklem Metall hervor, eine Art Meißel. Er setzte es dem Mädchen an den Kopf und …
Schreiend fuhr Steven hoch. „ “Junge, was ist denn mit dir los in letzter Zeit? Es wird wohl Zeit, einen Arzt aufzusuchen.“ Besorgt beugte sich John über sein schweißüberströmtes Kind. „Nein, nicht den Arzt! Er wird mich fesseln und mir den Kopf aufmeißeln!“ Steven schlug um sich wie im Fieber. „Vater, sie machen Menschenversuche dort hinter der Mauer – nehmen Kindern Organe heraus und bewahren sie in Gläsern auf!“
„Gestern war es noch eine Spinnerei. Steven, du bist krank. Ich mache mir ernsthaft Sorgen.“ „Nein, hör zu, ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen! Es ist eine Spinnerei, aber dahinter gibt es noch etwas anderes! Das wollte Joey mir zeigen!“ Zitternd umklammerte der Junge seines Vaters Arm.
„Also gut. Wir werden die Mauer aufbrechen lassen. Vorher gibst du ja doch keine Ruhe“, gab John schließlich nach.
Am nächsten Tag krochen die Handwerker fassungslos durch das Loch in der Wand in einen dunklen muffigen Raum. Kleine Skelette saßen gebeugt hinter Spinnrädern, die mit Spinnenweben überzogen waren. Der Fund nebenan war noch grausiger: Gläser mit menschlichen Organen unter einer dicken Staubschicht in wackeligen Holzregalen. Man konnte nur mutmaßen, was hier geschehen war. Der Besitzer der Spinnerei hatte anscheinend Geschäfte mit einem skrupellosen Arzt gemacht, der im Hinterzimmer Kindern Organe zu Forschungszwecken entnahm und dafür die Spinnerei finanziell unterstützte. Leider war der Spinnereibetreiber seit dem Krieg verschollen, und es existierten keinerlei Unterlagen, mit welchem Arzt – oder steckte gar ein ganzes Krankenhaus dahinter? – er seinen diabolischen Vertrag geschlossen hatte. Düstere Machenschaften in der Medizin bis hin zum Organhandel waren sogar in der heutigen Zeit leider nichts Unbekanntes. Weitaus seltsamer mutete dagegen die Geschichte des Jungen aus der Vergangenheit an, der das alles erst aufgedeckt hatte. Obwohl Joey nie wieder auftauchte – möge seine Seele endlich in Frieden ruhen – und der Keller vollständig geräumt wurde, stand das Atelier zum Verkauf. Zu düster lagen die Schatten der Vergangenheit über dem Gemäuer. Steven erholte sich nur langsam. Ihn schockierte weniger, dass eine verstorbene Seele – die nun wohl endlich den Weg ins Licht fand – ihn heimgesucht hatte, sondern die Tatsache, zu welchen Gräueltaten Menschen fähig sind, um zu Ruhm und Reichtum zu gelangen.

©byChristine Erdic

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Die deutsche Buchautorin Christine Erdic lebt zur Zeit hauptsächlich in der Türkei.
Beruflich unterrichtet sie in der Türkei Deutsch für Schüler (Nachhilfe), sie gab
Sprachtraining an der Uni und machte Übersetzungen für türkische Zeitungen.
Mehr Infos unter Meine Bücher- und Koboldecke
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