Endstation Anatolien
Auswandern? Mit fast vierzig Jahren und zwei schulpflichtigen Töchtern? Und noch dazu in den Orient? Christine Erdic hat es gewagt! Das Morgenland lockt mit bunten Basaren, leuchtenden Farben, einem unvergleichlich blauen Himmel und geheimnisvollen mondbeschienenen Nächten. Doch wie ist das wirkliche Leben hinter dem Schleier der Illusionen? Ein Buch, das das Leben schrieb!
ISBN-13 : 978-3752897111
https://prmitteilung.de/2024/09/30/aus-dem-leben-einer-auswanderin
Leseprobe aus dem Buch
Çeşme gegenüber liegt die griechische Insel Chios. Mit dem Schiff oder der Fähre dauert die Überfahrt nur etwa eine halbe Stunde, gut 20 Minuten mit dem schnelleren Katamaran.
Meine erste Bekanntschaft mit Chios geschah ziemlich unfreiwillig im Jahr 2000.
Damals war ich ganz normal mit meinem deutschen Ausweis eingereist und hatte die drei visafreien Monate um genau zwei Tage überschritten. Als ich mich montags bei der Fremdenpolizei am Konak in Izmir meldete, um ein Ikamet – eine Aufenthaltsberechtigung zu beantragen, runzelte der Beamte die Stirn: „Sie sind über die Zeit! Tut mir leid, das kostet Strafe, und Sie müssen die Türkei verlassen, um dann erneut einzureisen.“ Entsetzt sah ich meinen Mann an, der mich begleitete. „Aber die drei Monate waren am Samstag um – da sind die Ämter doch geschlossen“, warf ich ein. „Nicht das Ausländeramt. Wir haben auch am Wochenende geöffnet“, erklärte der Beamte seelenruhig.
„Wir zahlen gerne die Strafgebühr, aber deshalb gleich das Land verlassen? Gibt es da nicht eine andere Möglichkeit? Es handelt sich schließlich um meine Ehefrau“, sorgte sich Hugo. Der Staatsdiener zeigte sich unbeeindruckt: „Sie sind doch Deutsche. Warum steigen Sie nicht einfach in den Flieger und kommen morgen zurück. Dann hat alles seine Ordnung.“
Mein Mann und ich sahen uns an. Mal eben nach Deutschland fliegen? Der Mann hatte Humor! Es hatte keinen Sinn. Wir zahlten eine Strafgebühr, die genauso hoch war, wie die Kosten für das Ikamet, nämlich etwa einen türkischen Monatslohn zu jenen Zeiten. „Kommen Sie wieder, wenn Sie einen neuen Einreisestempel in Ihrem Pass haben. Dann stellen wir ein Ikamet aus.“
Jetzt war guter Rat teuer. Hugo machte sich schlau und bekam einen wertvollen Tipp: Alle EU- Bürger, die ihren Aufenthalt überzogen haben, fahren von Çeşme aus nach Chios rüber und bekommen bei Ihrer Rückkehr einen türkischen Stempel in den Ausweis. Heutzutage wird das strenger gehandhabt – damals hatte ich Glück, dass es ausreichte, die Türkei auch nur für wenige Stunden zu verlassen. Also fuhren wir in das etwa 90 km entfernte idyllische Çeşme und besorgten ein Ticket für das Schiff nach Chios. Mehr brauchte ich nicht. Leider konnte Hugo nicht mit. Als türkischer Staatsbürger brauchte er ein Visum, eine kostspielige und zeitraubende Angelegenheit. Folglich fuhr ich allein, gut bestückt mit griechischen Drachmen – Überbleibsel von unseren Autofahrten Deutschland – Türkei. Noch hatte Griechenland den Euro nicht.
Auf dem Schiff befanden sich, außer einer türkischen Familie mit zwei kleinen Kindern, ausschließlich Ausländer. Diese fuhren wohl aus demselben Grund wie ich auf die griechische Insel. Am Abend würden auch sie wieder zurückkehren.
Der erste Schreck erfasste mich bei der Ankunft auf Chios. Dort musste man eine Hafengebühr zahlen. Skeptisch reichte ich dem Beamten ein paar abgezählte Drachmen. „Where have you got this?“ Der gute Mann riss die Augen auf. „From Greece. What is wrong?” „Please show me …“ Er durchsuchte die Münzen in meiner Hand, dabei stellte sich heraus, dass der größte Teil wohl bereits ungültig war. Es entzog sich meiner Kenntnis, wann die Griechen neue Drachmen geprägt hatten. Auf der Urlaubsfahrt waren unsere noch gültig gewesen. Seufzend suchte der Beamte sich zwei Münzen heraus und winkte mich durch. Ich stand nun ratlos mit meinem wertlosem Geld und einer Flasche Wasser als einzigem Proviant auf europäischem Boden. Die Mitreisenden zogen an mir vorbei. Ich trottete hinterher Richtung Stadt. Ohne Zaster konnte ich nicht einmal etwas essen hier. Einen Strand konnte ich auch nirgends erblicken. Die Insel machte alles in allem nach dem lebendigen Çeşme einen recht trostlosen Eindruck auf mich. Mit dem quirligen Rhodos, wo ich früher einmal Urlaub gemacht hatte, war sie auch nicht zu vergleichen. Weit ab vom internationalen Tourismus, beschaulich, ruhig …
Die Mitreisenden verstreuten sich in alle Winde. Das einzige Schiff fuhr erst gegen 18 Uhr zurück. Ich beschloss, die Stadt zu erkunden und fand mich bald in immer höher steigenden Gassen wieder. Eine Schule mit griechischer Flagge erregte meine Aufmerksamkeit. Jungen und Mädel in Sportanzügen marschierten in Reih und Glied wie beim Militär. Sie brüllten am Ende ihrer Tour jedes Mal Eko und machten dann kehrt, um in die andere Richtung weiter zu marschieren. Nach einer Weile wurde es uninteressant.
Ich musste mir mein Wasser streng einteilen und setzte mich auf die Stufen eines antik anmutenden Gebäudes. Einige Einheimische kamen vorbei und musterten mich argwöhnisch. Noch immer keine Spur von meinen Mitreisenden. Die saßen sicher irgendwo am Hafen und aßen zu Mittag. Die Zeit verging nur langsam. Nachmittags machte ich mich an den Abstieg. Ich hatte vieles gesehen: alte Gassen, geschichtsträchtige Gemäuer, zwei wunderschöne orthodoxe Kirchen und Menschen, die weitaus in sich gekehrter waren als die gesprächigen und kontaktfreudigen Izmiraner. In der Türkei war mangelnde Sprachkenntnis nie ein Hindernis für mich gewesen – hier war sie es.
Auch dieser Tag ging vorbei, ich konnte aufs Schiff und atmete auf, als ich meinen Stempel auf der türkischen Seite bekam. Danach gab es keine Probleme mehr, auch nicht mit dem Ikamet, das wohl eine Aufenthaltsberechtigung beinhaltete aber keine Arbeitserlaubnis. Diese musste damals und muss auch heute noch vom jeweiligen Arbeitgeber beantragt werden. Dazu muss dieser als Begründung allerdings erst nachweisen, dass kein Türke die entsprechende Arbeit verrichten kann. Ein etwas schwieriges Unterfangen also.
In den folgenden Jahren sollte ich noch öfter auf die Insel fahren, vor allem mit Besuch im Schlepptau. Die Insel wurde im Laufe der Jahre von den reiselustiger werdenden Türken entdeckt – sehr zur Freude der sonst den Nachbarn nicht immer freundlich gesinnten Griechen. Besonders nach der großen Krise in Hellas sind sie auf das hereinkommende Geld angewiesen. Heute sprechen viele Einwohner dort Türkisch, und vor Läden und Restaurants findet man Schilder in türkischer Sprache.
Noch immer gibt es hier keinen Massentourismus, aber das ist auch gut so.
Ich habe inzwischen zwei Stammlokale: Gleich vorne an der Promenade gibt es wunderbare Brötchen mit Kochschinken und dazu duftenden Kaffee nach Wahl. Mittags kehre ich im Aella ein, das mir von einer türkischen Ladenbesitzerin auf Chios empfohlen wurde, als ich sie fragte, wo man denn am besten und günstigsten Souvlaki essen könne.
Natürlich darf dazu eine Flasche Rotwein nicht fehlen. Mit dem Rakı bin ich allerdings vorsichtiger geworden, nachdem ich einmal an einem heißen Sommertag beides zusammen zu mir nahm. Just an jenem Morgen entdeckte ich eine Butterdose in der Auslage eines der kleinen Souvenir Shops wieder, auf die ich schon im Vorjahr ein Auge geworfen hatte. Schon beim Aufstehen nach dem Genuss meiner Fleischspieße merkte ich, dass ich mich ein wenig bemühen musste, eine gerade Linie bei zu behalten, konnte das aber gut vor meiner Mutter und Güldi verbergen. „So, und nun möchte ich noch die schöne Butterdose kaufen“, verkündete ich. Der Laden lag weiter vorne an der Promenade, zielsicher steuerte ich darauf zu. Dann stand ich vor der Fensterscheibe, und mich erfasste ein unglaublicher Anflug von Heiterkeit. „Moment, ich muss erstmal lachen“, sagte ich zu meiner verdutzten Mutter. Meine Tochter grinste, als ich losgackerte. Zum Glück kamen den Moment keine Leute vorbei – oder ich nahm sie zumindest nicht wahr. Nachdem der Anfall vorüber war, wurde mein Kopf wieder klar, und ich erstand problemlos das gute Stück.
Dass es den Leuten auf der Insel nicht wirklich gut geht, erfuhr ich von einem Taxifahrer auf einer Fahrt zu Lidl. Bei Lidl kauft man vieles günstiger ein als in türkischen Supermärkten – vor allem aber gibt es hier das lange entbehrte Schweinefleisch, Salami, Schinken und Camembert. Der Fahrer sprach sehr gut Türkisch, und so erfuhr ich von den Nöten der Bevölkerung. Jede Krise trifft in erster Linie den kleinen Mann, der hart für seinen Lohn arbeitet und die Mutter, die versucht, ihre Kinder satt zu bekommen. Ich wunderte mich, da ich viele Einheimische hier schon am Morgen in den Cafés sitzen sah – aber vielleicht hatten die bereits gar keine Arbeit mehr. Auch der nette Kaffeeshop Besitzer, mit dem ich das Jahr zuvor ins Gespräch kam, hatte inzwischen seinen Laden dicht gemacht. Damals sagte er. „Ich werde schließen. Es lohnt sich nicht mehr hier auf der Insel.“ Nachdenklich schlürfte ich meinen Kaffee mit Karamellaroma.
„Wohin willst du gehen?“, fragte ich den jungen Mann auf Englisch. „Am liebsten nach Istanbul – das ist so eine schöne Stadt, ich war schon zweimal dort“, schwärmte er. „Aber ich werde wohl aufs Festland gehen. Nach Saloniki oder Athen vielleicht. Hier gibt es keine Perspektive. Die jungen Leute wandern alle ab.“
Doch Saloniki ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Das stellte ich letztes Jahr bei einer Europafahrt fest. Und aus Saloniki kam auch jener Möbellieferant von Alfemo, der uns unsere Stubenmöbel aufbaute. Jahrelang hatte der Grieche dort mit seiner türkischen Frau gelebt. Nach der Krise zog er mit ihr und den Kindern nach Izmir. „In Griechenland gibt es keine Arbeit mehr für mich“, sagte er traurig.
Letzten Sommer besuchte ich mit meinem Mann, Tochter und Schwiegersohn erneut die Insel. Inzwischen ist sie mir vertraut und fast ein zweites Zuhause geworden. Diesmal hatten wir in einer Kirche ein besonders schönes, aber auch recht lustiges Erlebnis. Der Pope kam gerade vom Glockenläuten. Er wies fragend auf den Eingang, und wir nickten begeistert. So betraten wir staunend den heiligen Raum. Sogleich umfing uns ein ruhiges und friedliches Gefühl der Geborgenheit. Hier wirkte nichts überladen wie so oft in den katholischen Kirchen oder düster wie in den protestantischen, alles war harmonisch und geschmackvoll. Der Pope, alt und zierlich, verständigte sich mit Handzeichen und gebrochenem Englisch.
„Oh from Turkey“, sagte er freundlich. Wir entzündeten weiße Kerzen und steckten sie in den dafür vorgesehenen Kasten. Dann fragte ich, ob wir Fotos machen dürften. Er nickte und stellte sich neben meinen Mann – da eilte auch mein Schwiegersohn herbei. Es entstanden wunderschöne Bilder von den beiden mit dem Popen in der Mitte. Wir bedankten uns und verließen alle gemeinsam die Kirche. Der Geistliche schloss ab und winkte uns noch freundlich zu, bevor er in eine Seitengasse einbog und verschwand. Wir machten ein paar Außenaufnahmen und gingen dann weiter Richtung Hafen.
Plötzlich wurde mein Mann unruhig. Er durchwühlte seine Umhängetasche. „Hast du meine Brille?“, fragte er mich nervös. „Nein, die hast du sicher beim Kerze anzünden abgelegt“, entgegnete ich. „Dann liegt sie da wohl auch noch“, brummelte Hugo. Was jetzt? Die Kirche war verschlossen, und wir hatten keine Ahnung, wo wir den Popen finden konnten. Außerdem mussten wir langsam zum Schiff.
„Zumindest du hast heute deine Opfergabe geleistet“, grinste ich. Mein Gatte hatte schon öfter mal eine Brille irgendwo liegen lassen, aber diesmal erschien es mir weitaus lustiger als sonst. Ich stellte mir das Gesicht des Popen vor, wenn er Hugos Nasenfahrrad fand und prustete laut heraus. Trotzdem fanden wir alle, dass das Erlebnis den Verlust der Brille wert war. Ein kleines Tribut an die Völkerverständigung.
©byChristine Erdic
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Firmeninformation
Die deutsche Buchautorin Christine Erdic lebt zur Zeit hauptsächlich in der Türkei.
Beruflich unterrichtet sie in der Türkei Deutsch für Schüler (Nachhilfe), sie gab
Sprachtraining an der Uni und machte Übersetzungen für türkische Zeitungen.
Mehr Infos unter Meine Bücher- und Koboldecke
https://christineerdic.jimdofree.com/
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