Halle (S.) (ots) –
Dorothee Kleemann (73) lebt seit über dreißig Jahren in Halle (S.). Beinahe ihr ganzes Leben hat die 73-Jährige als Physiotherapeutin gearbeitet – als sie 2009 in den Ruhestand ging, wollte sie die Arbeit mit Menschen nicht aufgeben. Ehrenamtlich engagiert sie sich als Seniorenbesucherin. Dazu unterstützt sie seit Projektstart die Initiative “KlingelZeichen”, die junge und ältere Menschen zusammenbringt. Als Dankeschön für ihren gesellschaftlich wertvollen Beitrag wurde sie vom Land Sachsen-Anhalt zum Teil der diesjährigen Bürgerdelegation ernannt. Als sie von ihrer Wahl erfuhr, saß sie gerade im Zug, auf der Rückfahrt von einem Besuch bei ihren Enkeln in Tübingen.
Ich hatte mir den Brief der Staatskanzlei als Lektüre mitgenommen. Ich dachte, dass ich im Zug ja genug Zeit zum Lesen habe. Aber dass es sich um so eine schöne Überraschung handeln würde, damit hätte ich nicht gerechnet. Und als ich dann das Programm gesehen habe, das uns am Festtagswochenende erwartet, da war ich echt baff. Ich freue mich wahnsinnig, dass ich den Delegationen aus ganz Deutschland unser schönes Bundesland und meine Heimat Halle (S.) zeigen kann. Wenn ich so auf mein Leben zurückblicke, dann hätte ich das wirklich kaum für möglich gehalten – ich komme gebürtig ja aus dem Westen.
Ich war fünf Jahre alt, als meine Mutter mit mir von Hamburg nach Erfurt zog. Wir hatten zuvor schon in München und Wiesbaden gewohnt. Für sie hatte es sich beruflich angeboten, für mich war es einfach schön, näher an meinen Großeltern zu sein. Und eigentlich wollten wir schon wieder in den Westen zurückgehen, meine Mutter und ich. Wir hatten auch schon ein Zugticket – am 13. August 1961 hätte es losgehen sollen. Aber dann kam der Mauerbau dazwischen und wir konnten nicht mehr ausreisen.
Anfangs war ich traurig darüber, weil ich mich nicht mehr so frei bewegen konnte, wie ich wollte. Über die Tragweite des Mauerbaus war ich mir damals noch nicht bewusst – nur, dass es wohl doch nicht zu den Verwandten in den Westen geht. Meine Mutter war nie so richtig konform mit dem DDR-Staat. Ich wurde zum Beispiel auch kirchlich erzogen, habe keine Jugendweihe bekommen. Damit bin ich im Osten natürlich immer angeeckt. Auch deswegen würde ich den Einheitstag, oder sagen wir die Grenzöffnung, als großes Geschenk in meinem Lebensweg betrachten: Endlich wieder frei reisen, gehen, wohin man will, meine Verwandten und Freunde im Westen wiedersehen – privat und politisch also ein unfassbar wichtiges Ereignis für mich.
Ich saß am Abend des 9. Novembers 1989 mit Freundinnen zusammen. Um Mitternacht klingelte dann der Mann einer Freundin an der Tür. Er ist fast die Treppe herauf gepurzelt, so aufgeregt war er. Ob wir es nicht mitbekommen haben, hat er uns gefragt. Aber wir hatten den ganzen Abend nur gequatscht und keine Nachrichten gehört. Wir haben uns direkt ins Auto gesetzt und sind an die Grenze gefahren. Wir standen 14 Stunden im Stau, bis wir endlich drüben waren. Wir wollten irgendwo im Harz übernachten, aber alle Hotels waren ausgebucht. Dass wir ein bisschen verzweifelt waren, hat ein Pärchen mitbekommen, das neben uns am Tisch im Restaurant saß – und hat uns einfach zu sich nach Hause eingeladen. An dem Abend haben wir Freunde fürs Leben gefunden, noch jetzt stehen wir in engem Kontakt.