Über drei Millionen “Schadensfälle” gibt es pro Jahr. Das bedeutet, dass über 3 Millionen Patienten sterben oder verletzt werden, wenn sie sich in Krankenhäuser begeben, sagt die WHO – das sind drei Millionen Menschen pro Jahr zu viel. Und das sind vorsichtige Schätzungen ohne die Länder Indien und China und ohne Kinder.
“Null vermeidbare Todesfälle in Krankenhäusern bis 2020 ist ein Ziel, für das es sich lohnt, zu kooperieren”, sagt Joe Kiani, Vorstandsvorsitzender und CEO des Medizintechnik-Unternehmens Masimo. Zur Verbesserung der Patientensicherheit sind alle Beteiligten gefordert, alle sollten zusammen arbeiten. Gemeinsam mit Bill Clinton gründete Joe Kiani die “Patient Safety Movement Foundation”, um vermeidbare Fehler in Krankenhäusern zu reduzieren. Das Ziel sind null vermeidbare Todesfälle bis 2020. Die Stiftung und die Bewegung, die sie angestoßen hat, sind enorm gewachsen: Vorstandsvorsitzende konkurrierender Firmen der Medizintechnik, führende Ärzte, Leiter von Krankenhäusern, Vertreter von Behörden und Politiker, Patienten aus aller Welt wollen gemeinsam arbeiten, um das Ziel zu erreichen.
Letztes Wochenende trafen sie sich beim “6. Weltgipfel zu Patientensicherheit, Wissenschaft und Technologie” in London (https://patientsafetymovement.org/events/summit/world-patient-safety-science-and-technology-summit-2018/#speakers). Dabei kündigte Jeremy Hunt, britischer Minister für Gesundheit und Soziales, neue Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit im Nationalen Gesundheitsdienst an (National Health Service, NHS). Die Einführung von elektronischen Verschreibungssystemen in den NHS-Krankenhäusern soll schnell umgesetzt werden, denn auch Medikationsfehler sind ein ernst zu nehmender Faktor für Patientensicherheit. Nach einer neuen Studie können sie in GB etwa 1.700 Todesfälle verursachen und zu 22.000 weiteren beitragen. Bei dem Thema Patientensicherheit geht es um Menschenleben – und gleichzeitig um die Vermeidung von finanziellen Verlusten. Der NHS schätzt seine jährlichen Verluste allein wegen der Auswirkungen von Medikationsfehlern auf 1,6 Milliarden Pfund.
Krankenhäuser in aller Welt werden durch die Stiftung aufgefordert, sich zu “Actionable Patient Safety Solutions” (umsetzbare Lösungen für die Patientensicherheit) zu verpflichten. Und die Umsetzung beginnt: Bisher haben sich ca. 4.600 Krankenhäuser in 44 Ländern haben dazu verpflichtet (letztes Jahr waren es 3500 Krankenhäuser).
“Das unnötige Leiden der Patienten und ihrer Familien ist schlimm genug. Aber jedes unerwünschte Ereignis zerstört die wertvollste Ressource im Gesundheitswesen: das Vertrauen. Wenn die Menschen sich nicht sicher sind, ob es sicher ist, Versorgung zu beanspruchen, werden sie aufhören, Versorgung in Anspruch zu nehmen”, sagte Dr. Tedros Ghebreyesus, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation.
Die Kommunikationswissenschaftlerin Prof. Annegret Hannawa von der Universität Lugano (https://annegrethannawa.com/)forscht seit 8 Jahren zum Thema. Aus Hunderten von Fallanalysen hat sie fünf Kernkompetenzen einer “sicheren Kommunikation” definiert. Beim 6. Weltgipfel zur Patientensicherheit in London stellte sie das Ergebnis vor: das “SACCIA” Kommunikations-Konzept, das ein einheitliches Verständnis unter den Beteiligten fördert und so für mehr Patientensicherheit sorgt. “Eine SACCIA-sichere Kommunikation bedeutet, dass Patienten künftig nicht mehr an der falschen Seite operiert werden, nicht mehr die falschen Medikamente einnehmen, nicht mehr die Folgen einer verspäteten Diagnose davontragen, und endlich mit Entlassungsanweisungen nach Hause gehen, die sie verstehen und richtig anzuwenden wissen.” In London ist das Konzept so gut angekommen, dass sich Sponsoren fanden, um in den USA eine SACCIA-Akademie aufzubauen.
Das möchte Prof. Hannawa auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz erreichen. Ihr Ziel ist es, dass jede Pflegeeinrichtung und jedes Krankenhaus in Deutschland eine zuständige Person hat, die dafür sorgt, dass in ihrem Haus eine sichere Kommunikation fortgebildet und praktiziert wird. Und dass aus dieser sicheren Kommunikationspraxis eine nachhaltige Sicherheitskultur für uns alle entsteht, die Patientenleben schützt und die Gesundheitsberufe wieder attraktiv macht.
Die Qualität der Gesundheitsversorgung ist weltweit sehr unterschiedlich. In Deutschland ist sie gut. Aber auch hier steht das Thema Patientensicherheit auf die Agenda, denn auch hier sind die Zahlen erschreckend: Jedes Jahr kommt es an deutschen Krankenhäusern zu 2 Millionen “unerwünschten Ereignissen mit Patientenschaden”. Das heißt, aktuell erfährt jeder 10. Krankenhauspatient in Deutschland nicht Heilung, sondern Schädigung. Prof. Hannawa sagt: “Wir haben kein Erkenntnisproblem. Wir haben ein Umsetzungsproblem.” Etwa 80% der schweren Schadensfälle entstehen aus unsicherer zwischenmenschlicher Kommunikation – trotzdem ist die Förderung einer sicheren Kommunikationspraxis bisher kein bzw. ein ungenügender Bestandteil der medizinischen und pflegerischen Ausbildung. Mittels einer sichereren Kommunikation könnten allein in deutschen Krankenhäusern täglich über 1400 Schadensfälle vermieden werden, errechnet Prof. Hannawa. Außerdem könnten bis zu 15% der jährlichen Krankenhausausgaben eingespart werden. Sichere Kommunikation bedeutet also mehr Patientensicherheit und gleichzeitig mehr Sicherheit für Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Ärzte und Pflegende.
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