„Preisbildung und Vergabe von Covid-19-Impfstoffen können globale und soziale Ungleichheit verfestigen“, argumentiert Wirtschaftsethiker aus Österreich in aktueller Veröffentlichung.
Wien, 5. November 2020 – Die anfänglich knappe Verfügbarkeit wirksamer Impfstoffe gegen Covid-19 überträgt eine enorme gesellschaftliche Verantwortung auf die produzierenden Pharmaunternehmen. Würde die Preisgestaltung und Verteilung dieser knappen Gesundheitsressource ausschließlich nach klassischen marktwirtschaftlichen Prinzipien erfolgen, würden reiche Länder und gesellschaftliche Schichten frühzeitiger geschützt werden als ärmere. Die globale und soziale Ungleichheit würde dadurch weiter manifestiert. Das ist die Grundthese eines nun veröffentlichen Beitrags des Leiters des österreichischen Institute for Business Ethics and Sustainable Strategy (IBES) der FHWien der WKW, der auch drei konkrete Maßnahmen für ein faires Vorgehen vorschlägt.
In einem Rechenexempel stehen 8 Milliarden Menschen einer Produktionskapazität von weltweit zwischen 1 bis 2 Milliarden Impfstoffdosen gegenüber. Um jeden Menschen zumindest ein Mal impfen zu können, würde es im besten Fall also 4 – 8 Jahre dauern – sofern ein zugelassener Covid-19-Impfstoff überhaupt einmal verfügbar wird. Was diese Versorgungslücke für Konsequenzen für die politische und gesellschaftliche Rolle von Pharmaunternehmen hat und wie marktwirtschaftliche Mechanismen die globale Ungleichheit verstärken könnten, schildert Prof. Dr. Markus Scholz, Leiter des IBES in Wien, in einem nun publizierten Beitrag in „Lehren aus Corona, Impulse aus der Wirtschafts- und Unternehmensethik“.
Kaum Angebot. Große Nachfrage.
„Die Knappheit der Impfstoffe würde den produzierenden Pharmaunternehmen prinzipiell (!) die Möglichkeit zu exorbitanten Preisforderungen geben, deren Erfüllung weit mehr als Entwicklungskosten und einen fairen Gewinn einspielen würde“, erläutert Prof. Scholz. „Ein Preis könnte dabei durch ein Bieterverfahren ermittelt werden, in denen Staaten, Stiftungen, Konzerne und sogar Superreiche Angebote machen.“ Die Konsequenz wäre, dass zunächst Industrienationen, dann Schwellenländer und zuletzt Entwicklungsländer Zugang zu einem Impfstoff erhielten. Würden in der Folge in den Ländern ebenfalls marktwirtschaftliche Kriterien die Impfstoffvergabe steuern, so würden zuerst Reiche, dann Ärmere und zum Schluss Arme vor der Infektion geschützt werden. Globale und soziale Ungleichheit würden sich verfestigen, denn reiche Nationen könnten ihre Ökonomie rascher wieder anwerfen, der Bevölkerung früher wieder Freiheitsrechte gewähren und Kultur- und Bildungseinrichtungen schneller wieder öffnen. Innerhalb einer Nation könnten Reiche früher zurück zur Arbeit als Arme und ihre Kinder eher wieder in Ausbildungsstätten schicken.
„Würden Unternehmen also die Preisbildung und Vergabe allein durch Marktmechanismen zulassen, wären sie mitverantwortlich für die sich verfestigende Ungleichheit auf der Welt“, meint Prof. Scholz. Gleichzeitig legt er dar, dass sich Unternehmen häufig auf die Position zurückziehen würden, dass es nicht ihre Aufgabe sei, Verantwortung für Ungleichheitsthematiken zu übernehmen, sondern dass dies die Aufgabe von Staaten und supranationalen Organisationen ist, an deren Gesetze und Regelwerke sich die Unternehmen halten würden.
Hier identifiziert Prof. Scholz eine Lücke im Zusammenspiel der weltweiten Staatengemeinde: „Nationale Regelwerke helfen bei einer globalen Krise wenig. Dennoch gibt es momentan nur wenig effiziente Institutionen, die den Einkauf und die Vergabe eines Covid-19-Impfstoffes weltweit koordinieren können. Hier besteht eine sogenannte Governance-Lücke.“ Die bestehenden Institutionen, z. B. die WHO, Gavi, die Impfallianz, oder COVAX sehen sich derzeit massiven Angriffen von mächtigen Staaten ausgesetzt (z. B. von den USA) bzw. werden von einigen reichen Staaten nicht unterstützt (z. B. USA, UK, Japan). „Vor diesem Hintergrund“, so Scholz, „ist es für Pharmaunternehmen moralisch nicht legitim, sich ausschließlich auf Gesetze und Regeln zu berufen und ihre Verantwortung an Staaten und supranationale Organisationen zu delegieren.“
Drei Therapiemaßnahmen
Um die unausweichlichen Herausforderungen der Preisbildung und Allokation dennoch zu meistern, schlägt Prof. Scholz in seiner Publikation drei konkrete Maßnahmen vor. Erstens: Produktionskapazitäten konkurrenzierender Pharmaunternehmen sollten gepoolt werden. Nur so wäre eine maximale Versorgung in Ansätzen möglich. Dazu muss insbesondere in der Europäischen Union das Kartellrecht, das Abstimmung und Kooperation reglementiert, angepasst werden. Zweitens: Eine Nicht-Patentierung des Impfstoffes sollte erwogen werden, da nur dies anderen Unternehmen die rasche und günstige Möglichkeit böte, den Impfstoff selbst zu produzieren und so dessen Verfügbarkeit auszuweiten. Drittens: Bereits jetzt – während der Entwicklungsphase – sollten die Unternehmen der pharmazeutischen Industrie globale Institutionen wie die WHO (Gavi bzw. COVAX) aktiv stärken. Nur so können diese eventuell ihre fachliche Expertise und politische Legitimation einbringen und die Preisbildung und Vergabe nach möglichst ausgeglichenen Kriterien und ethischen Gesichtspunkten koordinieren.
Prof. Scholz geht dabei davon aus, dass politische Entscheidungsträger, insbesondere in sogenannten Entwicklungsländern, und andere Stakeholder ein verantwortungsvolles Verhalten der Pharmaunternehmen anerkennen und honorieren würden. Sollten sich Pharmaunternehmen im Rahmen der Covid-19-Pandemie hingegen übermäßig zu bereichern versuchen, sollten sich diese auf massive Reputations- und Legitimationsverluste, harsche Restriktionen und ggf. auf einen Entzug ihrer Patentrechte einstellen.
Der aktuell publizierte Beitrag von Prof. Scholz steht insgesamt im Kontext der international beachteten Forschung am IBES, das sich insbesondere mit Unternehmensethik, Nachhaltigkeitsmanagement und Strategie befasst.
Dr. Till C. Jelitto
PR&D – Public Relations für Forschung & Bildung
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