Die Kobolde kuscheln sich zu sechst in die weichen Fellsäcke, die auf dem Schlitten befestigt sind. Es ist zwar recht eng, aber dafür muss keiner frieren. Die Winter in Norwegen sind auch ohne den Fahrtwind kalt genug, und Nepomuck hat schon wieder eine ganz rote Nase. Eines Tages wird sie ihm abfrieren, fürchtet seine Mutter. Vorerst aber sitzt sie noch recht fest am Kopf, und er steckt sie vorwitzig in die kalte Luft hinaus, um etwas zu sehen.
Langsam zockeln die Rentiere dahin und ziehen den Schlitten durch eine märchenhaft verschneite Landschaft. Die großen Tannen sehen aus wie mit Zuckerwerk verziert, und eine fast unheimliche Stille liegt über dem Land.
Irgendwann wird auch Nepomuck müde, und sein leises Schnarchen vermischt sich mit dem der anderen friedlich schlummernden Kobolde. Plötzlich gibt es einen heftigen Ruck, der Schlitten schlingert gefährlich und kippt dann plötzlich zur Seite. Die Kobolde purzeln durcheinander und kullern aus den behaglichen Säcken in den eisig kalten Schnee. Nepomuck schlägt mit dem Kopf gegen den Schlitten und schaut sich benommen um. Es ist dunkel um ihn, er sieht Sterne funkeln, sein Schädel brummt.
Als er wieder zu sich kommt, schaut sein Bruder Norbert ihn besorgt an und befühlt seinen Kopf.
„Autsch!“, ruft Nepomuck. Das tut weh, eine hübsche Beule ziert seine Stirn. Der Schlitten liegt noch immer auf der Seite, und die Kobolde stehen in der Kälte und beratschlagen eifrig. Der Kutscher ist zwar recht kräftig, aber allein kann er den Schlitten auch nicht wieder in die richtige Position bringen. Glücklicherweise ist den vier Rentieren, die den Schlitten ziehen, nichts passiert. Der Kutscher kratzt sich am Kopf, er weiß noch immer nicht, wodurch der Schlitten umgekippt ist, aber wenn jetzt ein neuer Schneesturm kommt, dann sind sie alle verloren. Es ist zu weit, um zu Fuß bis ins nächste Dorf zu laufen, der Schnee liegt tief, die Kobolde würden in ihm versinken. Sorgenvoll blickt er zum Himmel, der sich langsam grau verfärbt. Noch mehr Schnee ist so ziemlich das Letzte, was sie jetzt gebrauchen können.
„In der Nähe könnte es Trolle geben“, warnt ein etwas älterer Kobold. Nepomuck hat schon von den Trollen gehört, aber noch nie selber einen gesehen. Sie sind viel größer als Kobolde, heißt es, und jeder geht ihnen aus dem Weg. Meist sind sie allein unterwegs, sie sollen sehr kräftig sein und dulden keine Fremden in ihrer Umgebung. Man hat auch schon kleine Gruppen von drei bis vier Trollen entdeckt. Zum Glück sind die Kobolde wendiger und flinker als die schwerfälligen Trolle, und so konnten sie bisher immer rechtzeitig entkommen.
Nepomuck schaut sich neugierig um, aber da ist nichts außer dem dunklen Wald zu sehen, der seine Geheimnisse nicht preisgibt.
„Keine Bange, man kann sie nicht überhören, wenn sie sich nähern“, beruhigt ein anderer Kobold die Gruppe. Der Gedanke, hier die Nacht verbringen zu müssen, ist nicht gerade angenehm. Bis sie in der Weihnachtswerkstatt merken, dass etwas nicht stimmt, können noch Stunden vergehen. Hilfe ist vor dem nächsten Morgen nicht zu erwarten.
„Es hat keinen Zweck“, sagt der Kutscher entschlossen. „Ein Kobold hält mit mir Wache, und der Rest verschwindet in den Säcken, wo es wenigstens warm ist.“ Nepomuck kriecht wie die anderen in einen der flauschigen Fellsäcke. Sein kleiner Magen knurrt vor Hunger, denn der Proviant ist längst verzehrt. Sein Kopf schmerzt noch immer, und müde schließt er die Augen. Das ist kein schönes Abenteuer, denkt er traurig, bevor er in einen unruhigen Schlaf fällt.
Er wird wach, weil jemand anscheinend kräftig gegen den Schlitten tritt und es laut rummst. Alles scheint zu beben, und jemand brummt vor sich hin. Vorsichtig steckt er seinen Kopf aus dem Sack. Andere sind auch schon aufgewacht und versuchen ängstlich, ihn zurückzuhalten.
Nepomuck kann nichts erkennen. Lautlos klettert er in die Kälte hinaus und schleicht um den Schlitten herum. Eine wuchtige Gestalt steht dort und verdunkelt den langsam heller werdenden Himmel. Nepomuck muss den Kopf weit in den Nacken legen, um in das Antlitz des Trolls zu blicken. Die dunklen Augen, mit denen der Riese den Kutscher anschaut, sind ausdruckslos. Er hält ihn mit einer seiner behaarten Pranken in die Luft und brummt etwas in einer fremden Sprache. Hilflos zappelt der Kutscher mit den Beinen und kann sich nicht befreien. Der Troll hat eine feuchte Aussprache und faulige Zähne – jedes Mal, wenn er etwas sagt, gibt es eine kleine Dusche gratis dazu.
Nepomuck rast zu den Säcken zurück.
„Ein Troll“, wispert er mit angstvoll aufgerissenen Augen. Inzwischen haben sich alle Kobolde auf der anderen Seite des Schlittens versammelt.
„Ich spreche etwas Troll“, sagt da ein älterer Kobold plötzlich.
Sie beratschlagen sehr schnell, denn der Kutscher ist in höchster Gefahr. Bogin, so heißt der sprachkundige Kobold, wird in Nepomucks Begleitung versuchen, mit dem Troll zu reden. Leise gehen die beiden um den Schlitten herum zur anderen Seite. Dort hat sich nichts verändert an der Situation. Bogin klettert auf einen Stein und ruft etwas in einer fremden Sprache. Der Troll schaut sich verwundert um und muss lange suchen, bis er endlich die kleinen Kobolde entdeckt. Er lässt den Kutscher zu Boden fallen und bückt sich interessiert herunter.
„Ah“, sagt er laut und dann nochmals: „Ah.“
Bogin sagt irgendetwas, und der Troll macht einen Schritt nach vorn. Nepomuck springt rasch zur Seite, um nicht unter die riesigen Füße zu geraten. Er stellt fest, dass der Troll auch nur vier Zehen an jedem Fuß hat, genau wie ein Kobold. Der Troll antwortet schwerfällig, anscheinend muss er immer erst lange nachdenken, wenn Bogin etwas sagt.
„Das ist Trollo“, erklärt Bogin. „Er hat nicht gern Fremde in seinem Revier und will, dass wir schnell wieder verschwinden.“
„Ja, nichts lieber als das. Aber wie denn?“ Nepomuck schaut Trollo wütend an. „Dann soll der uns doch helfen, den Schlitten wieder aufzurichten. Stark genug ist er allemal.“
„Warte, ich versuche mal, ob ich das in Troll ausdrücken kann.“ Bogin redet mit Händen und Füßen und deutet dabei immer wieder auf den umgestürzten Schlitten. Plötzlich entblößt Trollo seine braunen Zahnstummel und lacht dröhnend auf. Die Erde bebt unter seinen Füßen, als er auf den Schlitten zugeht. Die Kobolde bringen sich schnell in Sicherheit, bevor der Schlitten mit Getöse wieder auf seine Kufen fällt. Für Trollo war das eine Kleinigkeit. Freundlich grinsend beobachtet er, wie der Kutscher die Rentiere wieder einspannt und die Kobolde in die Fellsäcke klettern. Bogin bedankt sich, der Troll nickt mit dem Kopf, grunzt etwas und macht sich schweren Schrittes auf den Weg zurück in den Wald.
„Also Bogin, wenn du kein Troll sprechen würdest …“, sagt Nepomuck, während sich der Schlitten langsam in Gang setzt.
„Darüber möchte ich jetzt lieber nicht nachdenken“, erwidert Bogin mit einem listigen Zwinkern in seinen Augen.
Es ist später Abend, als der Schlitten vor der Werkstatt des Weihnachtsmannes hält. Elfen und Kobolde eilen herbei, um die Neuankömmlinge in Empfang zu nehmen. Später sitzen alle bei Kuchen, Keksen und heißem Kakao und berichten dem Weihnachtsmann von ihren Erlebnissen.
„Da habt ihr aber Glück gehabt“, sagt der Weihnachtsmann ernst. „Mit den Trollen ist nicht gut Kirschen essen. Es liegen mir viele Berichte vor.“ Nepomuck ist viel zu müde, um noch etwas aufzunehmen. Er ist froh, als er endlich in seinem hellblauen Himmelbett liegt und schläft ruhig und traumlos dem neuen Morgen entgegen.
(Leseprobe aus „Weihnachten mit Nepomuck und Finn“)
©byChristine Erdic
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Die deutsche Buchautorin Christine Erdic lebt zur Zeit hauptsächlich in der Türkei.
Beruflich unterrichtet sie in der Türkei Deutsch für Schüler (Nachhilfe), sie gab
Sprachtraining an der Uni und machte Übersetzungen für türkische Zeitungen.
Mehr Infos unter Meine Bücher- und Koboldecke
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