Mainz (ots) –
Es ist das immergleiche Ritual: Das Bundesverfassungsgericht weist der Politik ein gravierendes Versäumnis nach – und wird dafür unisono von der Politik gelobt. Der ausdrückliche Dank für die erhaltene Ohrfeige soll wohl Einsicht und Lernfähigkeit zeigen, er hat aber auch etwas Irritierendes. Warum war man nicht in der Lage, ohne die Ansage aus Karlsruhe das Notwendige zu tun? Das müssen sich im konkreten Fall zuerst die Parteien der abgewählten Regierung Merkel fragen lassen, also Union und SPD. Der Urteilsspruch aus Karlsruhe ist jedenfalls sonnenklar: Der Staat hat Menschen mit Behinderung vor Diskriminierung zu schützen, so steht es in Artikel 3 des Grundgesetzes. Und bisweilen kann sich dieser Schutzauftrag “zu einer Handlungspflicht verdichten”, wie es im Beschluss so schön heißt. Dabei ging es für die Kläger um die reale Gefahr, bei einer Überlastung des Gesundheitssystems während einer Pandemie vorzeitig aussortiert zu werden. Die Regeln dieser “Triage” beruhen auf der letztlich brutalen ärztlichen Abwägung der Erfolgsaussichten einer Behandlung: Gibt es nicht genügend Intensivbetten, kommt zuerst derjenige dran, dessen Chancen zu überleben am größten sind. Bei dieser – aus ärztlicher Sicht logischen – Auswahl drohen Menschen mit Behinderung von vornherein unberücksichtigt zu bleiben, wenn bei ihnen zum Beispiel die Leistungsfähigkeit der Lunge stark beeinträchtigt ist. Betroffenenverbände haben während der Covid-Pandemie auf diese Gefahr hingewiesen. Die Bundesregierung hat beschwichtigt: Man werde schon dafür sorgen, dass es gar nicht so weit komme. Dieses Versprechen genügt den Verfassungsrichtern nicht, zumal nach dem Beinahe-Kollaps des Systems vor einem Jahr. Menschen mit Behinderung haben einen Anspruch darauf, dass im Falle des Falles nicht nur die Erfolgsaussichten einer Behandlung über die Verteilung des Mangels entscheiden, sondern auch das Diskriminierungsverbot geachtet wird. Dies darf der Gesetzgeber aber nicht den Selbstverwaltungsorganen der Medizin überlassen, sondern er muss aktiv den gesetzlichen Rahmen setzen – Stichwort “Handlungspflicht”. Das alles mag ziemlich theoretisch klingen, kann aber für die Betroffenen den Unterschied zwischen sicherem Tod und einer Überlebenschance ausmachen. Bundesregierung und Bundestag müssen nun rasch praktikable Triage-Regeln unter Achtung des Antidiskriminierungsgebots formulieren. Das ist kein leichtes Unterfangen, hätte aber schon längst geschehen müssen. Doch bedurfte es einmal mehr einer Ansage aus Karlsruhe.
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