Das kleine Mädchen, …
… das auf dem Coverbild scheinbar so unbeschwert einen Wintertag genießt, hat auf seinem Weg zum Erwachsenwerden viel erlebt. Es ist ein Werdegang mit vielen Hindernissen und Unbillen. Teilweise finden diese ihren Ursprung in der Zeit, der Herkunft und politischen Lage, in der diese Biografie ihren Anfang nimmt: 1954 in einem Dorf in Westsibirien.
Rosa Ananitschev erzählt von Erlebnissen, die ihr besonders gut in Erinnerung geblieben sind: schöne und glückliche, traurige und tragische oder auch solche, die erst im reifen Alter aus der Tiefe aufstiegen und die Geschehnisse ihres Lebens in ganz anderem Licht erscheinen ließen. Die Erkenntnis, was den Depressionen zugrunde liegt, die sie seit ihren Kindheitstagen begleiten, löst zwiespältige Gefühle aus. Es braucht Zeit, bis die Autorin zu der Einsicht kommt, dass die kleine Rosa von damals ein Verschweigen nicht verdient hat, sondern vielmehr die Wahrheit und uneingeschränkte Anerkennung dafür, dass sie trotz allem, was ihr widerfahren war, die Willenskraft besaß, ihren Weg zu gehen.
Vielleicht stellt das Mädchen auf dem Cover die kleine Rosa dar? Gewiss – sie hätte von so herrlicher Winterkleidung nicht einmal zu träumen gewagt … und doch – ihrem Wesen nach ist sie es. Hin und wieder vergaß sie nämlich alles Schwere um sich und in sich, tobte und wirbelte im Schnee umher und fühlte sich leicht und frei – ganz in ihrem Element, ganz in ihrem Universum.
Leseprobe:
Ich weiß nicht, woher das kam – Scherben sammeln, wer damit überhaupt angefangen hatte. Es war einfach schon immer so: Mädchen und ihre Scherbensammlungen.
Die Jungs schauten auf sie von oben herab, aber insgeheim waren sie doch sehr neugierig und manchmal auch neidisch. Man musste sein Töpfchen mit den Scherben gut hüten und verstecken, um vor ihren langen Fingern sicher zu sein.
Was waren das denn für Scherben? Die Antwort ist einfach – kleine Porzellan- oder Tonscherben verschiedener Größe. Und was war daran so aufregend?
Ich hole mal in Gedanken mein Eimerchen hervor und breite die Schätze auf dem Tisch der Erinnerung aus. Für meine Augen ist es die reinste Pracht.
Bescheidener wirken natürlich die weißen Teile, es sei denn, sie besitzen eine außergewöhnliche Form. Mein Blick haftet auch nicht allzu lange an den einfachen, mit einem oder zwei farbigen Streifen verzierten Stücken, sondern verweilt liebevoll bei den schönsten, aufregendsten Exemplaren.
Da sind ein paar Scherben mit den hübsch geschwungenen Teilen eines Blumenornaments … Wie mag wohl das Gefäß, zu dem sie einmal gehörten, ausgesehen haben? …
Dies ist ein kostbares Stück mit vollständig erhaltener exotischer Blume; dies eins mit einer halben menschlichen Figur, so seltsam, so fremd – das heil gebliebene Auge gleicht einem Schlitz, die Kleidung – wo trägt man denn so etwas?
Ich überlege, wer im Dorf einen solchen Teller oder eine derartige Tasse besessen haben könnte und komme zu dem Schluss, dass die Scherbe gar nicht aus unserem Dorf stammen kann … Unmöglich! Aber woher dann? Und schon ist meine Fantasie in Gang gesetzt …
Bemerkenswert ist auch, wie man so eine Sammlung zusammenbekam. Wie erwähnt, spielten wir Kinder oft auf Baustellen, wo immer eine Scherbe zu finden war. So gefährlich, wie heutzutage in der Stadt, waren diese Orte damals nicht. Da stand höchstens ein einfacher Bagger.
Aufregend war es, in die Fundamentgruben hinunterzusteigen oder zwischen den Holz- und Ziegelstapeln wie in einem Labyrinth umherzuirren. Und dabei hielt man auch die Augen offen, jederzeit für eine spannende Scherbenentdeckung bereit.
Die kleine Rosa hatte ihre eigene geheime Quelle – das Kartoffel- und Gemüsefeld hinter dem Haus. Ich wusste, dass man da die wertvollsten Stücke finden konnte.
Wie ich zu dieser Überzeugung kam? Ich denke, es lag daran, dass ich beim Unkrauthacken oder während der Kartoffelernte gelegentlich einige Scherben entdeckt hatte.
Oder es war die Idee, dass Scherben auch vom Himmel fallen können – als Teile des Tellers eines Außerirdischen. Wer weiß schon, was sich ein Kinderhirn zusammenreimt?
Wegen der großen Schneemassen setzte der Frühling in Sibirien stets langsam ein, verlief dann umso heftiger. Am schnellsten verschwand der Schnee auf dem Kartoffelacker. Darauf wartete ich schon sehnsüchtig, um mit meinen Feldforschungen loszulegen.
So war es auch in jenem Frühling 1960, als ich sechs Jahre alt war. Ja, ich hatte meine Bedenken – das gebe ich zu – aber die Erde sah so schwarz, so trocken, so verlockend aus.
Kein Fleckchen Schnee mehr, keine Wasserpfützen. Ich traute mich, und anfangs ging auch alles gut – fast bis zur Mitte des Feldes. Dann spürte ich plötzlich, wie meine Beine immer schwerer wurden und ehe ich mich versah, steckte ich fest.
Ich erstarrte vor Schreck, aber der Boden gab mehr und mehr nach. Ich versuchte, ein Bein aus dem Erdreich herauszuziehen. Es gelang mir, allerdings ohne den Gummistiefel – der wollte nicht mit.
Was sollte ich tun? Ich sah mich um – kein Mensch zu sehen. Ich war ganz allein. Mitten im Sumpf!
Mich überkam die nackte Panik. Die Vorstellung, in der feuchten Erde zu versinken, war grauenhaft. Ich steckte mein Bein zurück in den Stiefel … und fing an zu schreien …
Quelle http://www.spass-und-lernen.com/buchblog_195
Produktinformation:
Taschenbuch: 256 Seiten
Verlag: Karina-Verlag; Auflage: 1 (2. Mai 2016)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3903056855
ISBN-13: 978-3903056855
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Bild © mit freundlicher Genehmigung von Martin Urbanek, Spaß und Lernen
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