Ein Traum aus Meer und Sonne? So manch einen zieht es in die Ferne. Doch nicht immer ist alles so, wie man es von zu Hause gewohnt ist. Da heißt es oftmals improvisieren.
Endstation Anatolien
Auswandern? Mit fast vierzig Jahren und zwei schulpflichtigen Töchtern? Und noch dazu in den Orient? Christine Erdic hat es gewagt! Das Morgenland lockt mit bunten Basaren, leuchtenden Farben, einem einzigartigen blauen Himmel und geheimnisvollen mondbeschienenen Nächten. Doch wie ist das wirkliche Leben hinter dem Schleier der Illusionen? Ein Buch, das das Leben schrieb!
Die Türkei ist ein südliches Land …
1987 erblickte unsere Tochter Güldi das Licht der Welt in Hannover. Es wäre fast danebengegangen, denn sowohl Frauenärztin als auch Krankenhaus übersahen meine Schwangerschaftsvergiftung. Das Baby war bereits zehn Tage über die Zeit, dennoch hätte man mich nach drei Tagen Krankenhausaufenthalt am nächsten Morgen entlassen, wenn – ja wenn nicht mein Blutdruck auf 210 hochgeschnellt wäre. Hals über Kopf wurde ein Kaiserschnitt gemacht, der uns beiden das Leben rettete. Eine meiner Bettnachbarinnen hatte weniger Glück: Ihr Mädchen überlebte den ebenfalls verspäteten Eingriff nicht und verstarb wenige Tage darauf im Kinderkrankenhaus, in dem auch meine Kleine nach der Geburt lag.
Ein Jahr später wagten wir den Absprung. Wir zogen in die Türkei – nach Izmir, wo auch die Familie meines Mannes wohnte. Damals war ich eher für Marmaris oder Antalya gewesen, gab mich aber letztendlich geschlagen. Unsere Eigentumswohnung sollte angeblich im August fertig sein. Sie war es nicht! Also zogen wir in die alte Behausung meiner Schwiegereltern, die zu der Zeit ebenfalls in eine neue Wohnung umzogen. Damals galt: eine eigene Wohnung oder ein Haus musste mit allen Mitteln möglich gemacht werden, denn es gab hierzulande eine etwa hundertprozentige Inflationsrate, und die Mieten in einem halbwegs guten Viertel waren schier unerschwinglich mit einem normalen Verdienst.
Mein Mann fand rasch Arbeit bei einer internationalen Transportfirma. Kontakte halfen – zudem wurde jemand gebraucht, der über gute Deutschkenntnisse verfügte. Zu damaligen Zeiten hatten wir kein eignes Auto, konnten jedoch das von Schwiegervater zeitweise benutzen, sowie später nach Firmenwechsel seltener auch den Wagen vom Chef meines Mannes. Zu Weiterbildungszwecken musste Hugo oft über das Wochenende mit dem Bus nach Istanbul fahren, ich blieb mit unserer Tochter und gemischten Gefühlen zurück: Damals waren Busfahrten nicht ganz ungefährlich, inzwischen sind die Überlandstraßen besser ausgebaut. Das bedeutet auch weniger Busunglücke.
Als ich die Türkei zum ersten Mal besuchte, war es Sommer, und die Temperaturen kletterten leicht schon mal über die 40-Grad-Grenze. Mir war das recht, denn ich war und bin eine Sonnenanbeterin und durchaus tropentauglich, wie ein Aufenthalt an der kenianischen Küste in den 80ern mir bestätigte.
Der Winter kam früh in jenem Jahr. Anfang Oktober – meine Eltern hatten uns besucht und waren gerade wieder fort – entdeckte ich eines Morgens doch tatsächlich eine mit Eis überzogene Pfütze, als ich mich auf dem Weg zum Zahnarzt in die Uniklinik befand.
Nur wer schon einmal einen Winter in Izmir verbracht hat, kennt die eisigen Balkan-Winde, die manchmal über die ungeschützte, nach Nordwesten hin offene Bucht fegen. Nun hatten wir wohl Zentralheizung in der Wohnung, aber leider bezahlten viele Mieter oder Eigentümer die Umlagen nicht, und so blieb die Heizung eben aus. Natürlich wurde es schnell unbehaglich kalt in den Räumen, denn damals waren die türkischen Häuser nicht isoliert. Man hatte gebaut, als ob es ewig Sommer bleiben würde.
Güldi war ein quirliges und widerstandsfähiges Kind und blieb vielleicht dadurch verschont, doch ich bekam eine fürchterliche Magen- und Darmgrippe, begleitet von heftigem Schüttelfrost. Wenn das Wetter so eisig ist, geht garantiert ein Virus um, und mein Körper war ohnehin unterkühlt. Schon zu meiner Kindheit war der Winter meine kritische Zeit.
Normalerweise folgen auf drei oder vier kalte, trockene Tage ein bis zwei regenreiche und milde Wochen in Izmir. Nicht so in jenem Jahr. Es blieb eisig bis weit in den März hinein. Die Grippe war besiegt, doch das Unbehagen blieb – bis wir in unsere inzwischen fertiggestellte, eigene Wohnung wechselten.
Hier wurde nicht mit Öl sondern mit günstiger Kohle geheizt – das bedeutete, dass unten im Keller vom kapıcı – Hausmeister ein großer Ofen mit Kohle gespeist wurde, der das Wasser für die Heizkörper des ganzen Hauses erhitzte. Jetzt musste ich mich nicht mehr über Kälte beklagen. Im Gegenteil: Da auch gezahlt werden musste, wenn man die Heizung in der Wohnung ausdrehte – es gab keine Zähler für die Wohnungen und keine Thermostate – tat das natürlich niemand. Es wurde von November bis Ende März geheizt und basta! Großes Gelächter gab es jedes Mal, wenn einem von uns zu heiß wurde und er mitten im Winter plötzlich im Unterhemd dasaß. Vor allem Schwiegermutter litt sehr unter der Hitze bei uns.
Wir wohnten im dritten Stock und hatten einen Fahrstuhl, der auf jeder Etage eine lustige Melodie spielte. Direkte Nachbarn auf unserer Etage gab es nicht, denn jede Wohnung ging über das ganze Stockwerk.
Bei jedem Windzug klapperten unsere Außen-Jalousien, die Schienen waren einfach ohne Gummidichtung montiert worden. Bei der näheren Untersuchung stellte ich frustriert fest, dass die Kästen oben auch nicht richtig geschlossen waren. Doch das waren kleinere Probleme, die sich beheben ließen. Weniger schön war, dass die Wohnung kaum Sonne bekam. Der Nordbalkon vor der riesigen Stube – hier Salon genannt – lag stets im Schatten. Im Osten, Süden und Westen verhinderten andere Häuser erfolgreich das Eindringen jeglicher Sonnenstrahlen, was dazu führte, dass ich die Nachmittage fast immer mit Güldi im nahegelegenen Park verbrachte – sehr zu ihrem Vergnügen, denn sie liebte den Spielplatz dort. Ich hatte Gelegenheit, mich auf einer Bank mit anderen Müttern auszutauschen, und meine Tochter war gegen 18 Uhr eine der letzten, die noch immer begeistert die Rutsche hinunterdüsten. Doch dann wurde es höchste Zeit, das Abendessen zu bereiten, bevor Hugo nach Hause kam.
Gegessen wurde in der winzigen Küche, in die der Tisch gerade mal so hinein passte. Das Mahl hatte ich zuvor auf dem Herd, der an eine Propangasflasche angeschlossen war, zubereitet. Damals gab es keine anderen Möglichkeiten. Da ich von Deutschland Erdgas gewohnt war, war das eine ganz neue Situation für mich, die mich manchmal schon vor Probleme stellte. Erstes Alarmzeichen war ein plötzlich auftretender strenger Gasgeruch. Jetzt sollte man den Herd besser ausstellen und Aygaz oder Ipragaz anrufen. Ich dachte mir beim ersten Mal noch nichts dabei, bis ich merkte, dass das Essen nicht mehr kochte, weil die Flamme ausgegangen war. Also rasch dieTelefonnummer raussuchen und anrufen! Der Aygaz-Mann kam überraschend schnell – ich lauerte schon auf die Melodie des Fahrstuhls und riss erwartungsvoll die Wohnungstür auf. Der Gas-Onkel tauschte die alte Gasflasche gegen eine neue. Der Gasgeruch in der Küche war inzwischen überwältigend, aber wider Erwarten stand das Essen pünktlich auf dem Tisch, und ich konnte meine hungrige Familie abfüttern. Wie gut, dass es zu jenen Zeiten auch hier schon Telefone gab!
Man musste auch auf Stromausfälle gefasst sein. Das bedeutete nicht nur keinen Strom in der Wohnung, sondern auch keinen Fahrstuhl. Eines Tages war es wieder mal soweit! Die Kleine war schon gestiefelt und gespornt und freute sich auf den Spielplatz. Nun kann ja ein ganz Schlauer empfehlen: Na und, benutz doch die Treppe! Ist doch nur der dritte Stock! Leicht gesagt, denn das Haus hatte keine Treppenfenster, dafür aber eine recht steile Marmortreppe, die jetzt völlig im Dunkeln lag, da ja auch das Flurlicht nicht brannte. Hinzu kam das Problem mit dem Transport der Kinderkarre, für die unten im Hausflur absolut kein Platz war. Also musste sie täglich nach unten und wieder hoch befördert werden, natürlich alles mit dem Fahrstuhl. Der Ausflug in den Park fiel diesmal aus – zum Glück war es kein Arzttermin oder etwas wirklich Wichtiges. Und vor allem waren wir noch nicht eingestiegen und saßen im Fahrstuhl fest. Wer weiß, wie lange der Stromausfall diesmal dauerte. Solche Ausfälle konnten zu jeder Tages- und Nachtzeit auftreten. Meistens waren sie nur kurz. Den Rekord schlug viele Jahre später Ankara, als Güldi einmal 2 Tage lang keinen Strom hatte.
©byChristine Erdic
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Firmeninformation
Die deutsche Buchautorin Christine Erdic lebt zur Zeit hauptsächlich in der Türkei.
Beruflich unterrichtet sie in der Türkei Deutsch für Schüler (Nachhilfe), sie gab
Sprachtraining an der Uni und machte Übersetzungen für türkische Zeitungen.
Mehr Infos unter Meine Bücher- und Koboldecke
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