Fr. Mai 3rd, 2024

Eine Hand legte sich grob auf ihren Mund. Sie versuchte, zu schreien und brachte doch keinen Ton hervor. Es war leichtsinnig, allein auf dieser Bank im Garten zu sitzen, jetzt wo es dunkelte und Andy mit den Rechnungen beschäftigt war.
„Hast du gedacht, du kannst ihn mir wegnehmen? Da hat sich schon mal jemand getäuscht“, zischte eine Stimme dicht an ihrem Ohr. „Sieh dich vor! Ich beobachte dich ganz genau!“
Dann lockerte sich der Griff. Tamara zitterte am ganzen Körper. Als sie sich umsah, war niemand da.
„Ich drehe schon langsam ab“, flüsterte sie.
Es wurde eine unruhige Nacht voller Albträume.
„Er wird dir etwas antun“, sagte die Skulptur, die aussah wie Miriam. Eine Träne lief ihr quer über das Gesicht. Als Tamara sie fortwischen wollte, wurde sie dunkelrot. Miriam weinte Blut.
Schreiend fuhr Tamara im Bett hoch.
„Was ist denn, Liebes? Hast du schlecht geträumt?“ Die junge Frau nickte verstört: „Die Statue – sie weint Blut.“
„Unsinn. Das war nur ein Traum … Schscht, alles ist gut.“
„Es ist wohl wegen gestern Abend. Marco …“ Andy wurde hellhörig. „Was ist mit Marco?“
„Ich bin mir nicht sicher – aber …“ Tamara erzählte, was geschehen war. „Vielleicht war er es auch gar nicht“, schloss sie.
„Wer soll es denn sonst gewesen sein? Außer ihm und mir ist niemand mehr hier nach 20 Uhr.“
Andreas musste seinem Bruder ins Gewissen geredet haben, denn Marco wurde tatsächlich etwas freundlicher. Eines Tages winkte er Tamara, dass sie mit ihm kommen solle. Etwas mulmig war ihr schon, als er sie in das Kellergewölbe führte. Er schielte hoch:
„Du hast doch nicht etwa Angst?!“ Sein Lachen hallte boshaft von den Wänden wider. Doch, sie hatte Angst!
„Pst. Ich zeige dir, woran ich arbeite. Aber nichts Andy verraten! Es soll ein Hochzeitsgeschenk werden.“ Wieder das unheimliche Lachen.
Und dann sah Tamara in ihr eigenes Antlitz, gemeißelt aus Stein.
„Aber – aber das ist wunderschön!“ Atemlos sah sie den Buckligen an. Der grinste zufrieden und legte beschwörend den Finger auf seine Lippen.
„Ich verrate nichts“, versprach sie.
Draußen atmete sie gierig die frische Luft ein. Im Keller roch es stets ein wenig modrig. Sie war lange Zeit nicht mehr im Rosengarten gewesen und beschloss, einen kleinen Ausflug zu den Skulpturen zu machen. Hier fand sie zu ihrer Überraschung auch Andreas und den Gärtner vor.
„Das ist eine echte Schweinerei! Ist das rote Farbe? Wer macht denn so was?“ Der Gärtner hob ratlos die Schultern.
„Keine Ahnung! Mein Gehilfe und ich versuchen seit Stunden, das wegzuputzen. Aber es verschmiert nur. Es ist fast, als würde die Statue Blut weinen.“
„Wie in meinem Traum. Aber ich verstehe nicht, warum“, flüsterte Tamara.

„Er hat mich eingemauert“, anklagend hob die Skulptur ihre Hand, während ihr blutrote Tränen über das ganze Gesicht liefen. Unten stand der Gärtner und sammelte die Tränen in einer großen Wanne aus Emaille. Sie war schon fast voll. Und darin badete mit boshaftem Grinsen ein Gnom.
„Marco“, schrie Tamara entsetzt und fuhr aus dem Albtraum hoch.
„Andy, ich weiß, wo Miriam ist! Wir müssen die Statue öffnen!“ Sie rüttelte ihren Verlobten aus dem Schlaf.

(Leseprobe aus dem Buch „Unheimliche Geschichten
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-1093338331
Auch als E-Book erhältlch)

©byChristine Erdic

Firmeninformation
Die deutsche Buchautorin Christine Erdic lebt zur Zeit hauptsächlich in der Türkei.
Beruflich unterrichtet sie in der Türkei Deutsch für Schüler (Nachhilfe), sie gab
Sprachtraining an der Uni und machte Übersetzungen für türkische Zeitungen.
Mehr Infos unter Meine Bücher- und Koboldecke
https://christineerdic.jimdofree.com/
https://literatur-reisetipps.blogspot.com/

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